Professor:
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie zu so früher Stunde zu
meiner Vorlesung erschienen sind. In der Tat passt das gut zu meinem Thema, nämlich:
Woher kommt das Sprichwort: „Morgenstund hat Gold im Mund“? Sie werden sehen, dass
wir es hier mit einem großen Rätsel der deutschen Sprache zu tun haben! Ich darf zuerst die
Thesen meiner Vorgänger vorstellen. Professor Dr. Wilhelm Wackernagel glaubt, das
Sprichwort gehe auf den alten Brauch zurück, kleine Geldsummen vorsichtshalber im Munde
aufzubewahren, wenn man frühmorgens zum Marktplatz wandert.
Student:
Ist aber ganz schön gefährlich, wenn man mal stolpert!
2. Student:
Drum heißt es ja auch: Morgenstund ist ungesund!
Student:
Quatsch! Es heißt: Morgenstund hat Blei im A*rsch!
Professor:
Also meine Herrschaften, ich muss doch sehr bitten! Obwohl – der Hinweis auf einen
anderen Körperteil kommt mir gerade recht! Mein Kollege Robert Geete glaubt nämlich, dass
es in dem Sprichwort gar nicht um den Mund geht, sondern um die Hand. Er leitet das vom
Lateinischen „manus“ ab, das ja im Althochdeutschen zu „munt“ wurde, wie wir es noch im
Wort Vormund kennen. Dann hieße unser Sprichwort also: „Morgenstund hat Geld in der
Hand.“ Das soll heißen: „Morgenarbeit lohnt sich.“ Das ist ja auch der tiefere Sinn des
Sprichwortes.
Student:
Morgenstund hat Gold im Mund. Wer länger schläft, bleibt auch gesund.
Professor:
Also wer quatscht denn hier dauernd dazwischen? Es ist doch primitiv, dauernd die alten
Formen umzudrehen!
Sprecherin:
Ist es nicht, Herr Professor! Gerade unsere deutschen Dichter haben das mit Vergnügen
getan! Zum Beispiel Carl Zuckmayer im Hauptmann von Köpenick:
Kalle:
„Sie, Frollein, kommense mal n bisken näher. Wissense was? Ick sage immer: Morjenstund
is aller Laster Anfang!
Mieze:
Du meinst wohl: Müßigjang hat Jold im Munde, wat?
Kalle:
Die is richtig! Det ha’ck gleich jewusst, die is goldrichtig! Na, bleib doch man, wo willste denn
schon wieder hin, Mäusken?
Professor:
Es gibt aber auch eine ganz andere Deutung des Inhalts, nämlich eine Deutung, die nicht
aufs Materielle schaut. Ludwig Tobler hat sie in der Zeitschrift Germania veröffentlicht. Er
erinnert an die goldenen Zähne des germanischen Lichtgottes Heimdal, aber natürlich
können wir auch an die griechische Göttin Aurora denken. Dann würde das Sprichwort
ursprünglich heißen: Morgenstund hat goldenes Licht. Bekanntlich hat ja schon Johann
Heinrich Voß in seinem Hexameter „Die Morgenheitere“ auf das Gold der frühen Tageszeit
angespielt …
Sprecherin:
Sparen wir uns Johann Heinrich Voß. Ein anderer Dichter, Siegfried von Vegesack, war auf
jeden Fall witziger …
Zitator 1:
Eine frühe Morgenstunde
hatte plötzlich Gold im Munde.
Staunend sieht sie es im Wasser,
wird ganz rot und wieder blasser.
Gold, was hat das zu bedeuten?
Ganz so wie bei alten Leuten?
Und dann weint sie eine Träne.
Goldne Zähne! Falsche Zähne!
Gold im Munde! Gold im Munde!
Alt bist du nun, Morgenstunde!
Und ein Dichter trug die Kunde
sehr verblümt und sehr ästhetisch
indiskret, doch höchst poetisch
durch die ganze Weltenrunde:
Morgenstund hat Gold im Mund!
Sprecherin:
Sicher die lustigste Erklärung. Doch bestimmt nicht die, die den Professor befriedigt. Der ist
übrigens gerade bei Goethe.
Professor:
Es ist schon erstaunlich, dass Goethe, der sonst so sprichwortfreudige, dieses Sprichwort
nie verwendet hat. Im ganzen 19. Jahrhundert finden wir es überhaupt nur zweimal. Einmal
bei Jeremias Gotthelf in der Erzählung „Uli der Pächter“.
Zitator 2:
Es war noch ziemlich stille, die Stunde des Gerichts noch nicht da, und bekanntlich gehören
die Advokaten, welche früh zur Stelle sind, entweder zu den Ausnahmen oder zu den
Anfängern. Wer des Abends zu viel Wein im Munde hat, frägt dem Golde, welches die
Morgenstunde im Munde hat, nicht mehr viel nach.
Sprecherin:
Der einzige Beleg unter so viel Novellen und Dorfgeschichten – wahrscheinlich wurde das
Sprichwort in der Schule so oft als Aufsatzthema gestellt, dass kein Dichter mehr Lust hatte,
es als Erwachsener zu verwenden. Darauf deutet das zweite Zitat aus dem 19. Jahrhundert
hin. Es stammt von Johann Nestroy:
Zitator 1:
Morgenstund hat Gold im Mund, für die Prinzipals gesund, doch richtet’s die Kommis zu
Grund.
Sprecherin:
Deutlicher noch sagt es Bertolt Brecht:
Zitator 2:
Ach, des Armen Morgenstund
hat für den Reichen Gold im Mund.
Sprecherin:
Nicht nur die Dichter spielen mit dem Sprichwort. Auch die Werbetexter tun das. Zwischen
Sprichwort und Werbeslogan gibt es nämlich enge Verbindungen. Das Sprichwort ist kurz,
einprägsam und jedermann bekannt. Das möchte der Werbeslogan auch sein. Deshalb wird
er oft in ein Sprichwort hineingeschmuggelt.
Zitator 1:
Überstund hat Geld im Mund!
Sprecherin:
Das hört der Gewerkschaftler aber gar nicht gern! Es gibt doch so viele Arbeitslose!
Zitator 2:
Also gut: Ein Gespräch beim Arbeitsamt kann Gold wert sein. Nutzen Sie den langen
Donnerstag! Abendstund hat Gold im Mund!
Sprecherin:
Da sieht man’s. Das Sprichwort ist geduldig. Es lässt sich für jeden Zweck einsetzen.
Zitator 1:
Ich trinke Jägermeister – weil Morgenstunde ruhig auch mal Likör im Munde haben sollte!
Sprecherin:
Wenn das der Professor wüsste! Apropos – was macht denn eigentlich die Vorlesung?
Professor:
… habe ich die äußerst interessante Entdeckung gemacht, dass das Sprichwort zum ersten
Mal in Jan Gruters Sprichwortsammlung von 1611 auftaucht. Zu jener Zeit war aber das alt-
und mittelhochdeutsche Wort „munt“, was ja Hand bedeutete, längst ausgestorben. Also die
Bedeutung: „Morgenstund hat Geld in der Hand“ kann gar nicht gemeint sein. Und die
mythologische germanische Bedeutung kann bei einem so jungen Sprichwort, das noch nicht
einmal 400 Jahre alt ist, auch nicht gemeint sein. Wir sind also … äh … immer noch auf
Vermutungen angewiesen. Der Ursprung unseres Sprichworts liegt im Dunkeln. Damit ist
unsere heutige Vorlesung beendet.
Geräusch: Publikum klopft mit den Knöcheln auf den Tisch
Sprecherin:
Na, zwei Sachen haben wir doch aus der Vorlesung gelernt: Sprichwörter werden sehr oft
spielerisch verändert, nicht nur von den Dichtern, sondern auch vom Volksmund, und ihre
Herkunft ist oft ungeklärt. Bei den Redensarten ist das ein bisschen leichter, weil viele auf
mittelalterliche Bräuche zurückgehen. Zum Beispiel diese:
Zitator 2:
Vor dem brauchst du doch keine Angst zu haben! Der kann dir ja nicht das Wasser reichen!
Sprecher:
Die Sitte verlangte, dass man sich vor dem Essen die Hände wusch, und zwar an der Tafel.
Bei großen Gastmählern wurde mit einer Hornfanfare das Zeichen gegeben, dass jeder Gast
an seinen Platz gehen und warten sollte, bis die Reihe des Händewaschens an ihn kam. Ein
Edelknappe hielt dem Gast eine Schüssel unter die Hände, ein zweiter goss ihm Wasser
darüber. Handtücher hatten sie über die Schulter gehängt. Die Sitte war schon deshalb
notwendig, weil das Mittelalter kein Besteck kannte – man aß mit den Fingern. Nach der
Mahlzeit wurde das Händewaschen wiederholt.
Sprecherin:
Die Redensart „er kann dir das Wasser nicht reichen“ bedeutet, dass der andere so tief unter
dir steht, dass er nicht einmal Knappendienste bei dir verrichten kann. Die mittelalterliche
Esskultur hat noch andere Redensarten hervorgebracht, zum Beispiel:
Zitator 1:
Da liegt der Hase im Pfeffer!
Sprecher:
Der Pfeffer war das wichtigste Gewürz des Mittelalters. Pfefferkuchen und Pfeffernüsschen
erinnern noch heute daran. Auch die Gewürzbrühe, in der das Fleisch oder der Fisch
gesotten wurde, nannte man einen „Pfeffer“. Hier ist also die Brühe gemeint, in der der Hase
liegt.
Sprecherin:
Die Redensart meint also: „Jetzt kommen wir zur eigentlichen Hauptsache, hier liegt das
Fleisch in der Brühe.“ Eine verwandte Redensart aus neuer Zeit wäre: „Das Fleisch ist
wichtiger als die Brühe“, oder, wenn eine Sache zu viel Nebenkosten verursacht: „Die Brühe
ist teurer als das Fleisch.“ Schöner ist aber die alte Redensart, und zwar deshalb, weil sie
bildlich ist. Das gilt für alle alten Redensarten.
Zitator 2:
Ich hab die Katze im Sack gekauft, du musst eine harte Nuss knacken, er hat was auf dem
Kerbholz.
Sprecherin:
Das Kerbholz war die Schuldenliste des mittelalterlichen Kaufmanns. Die Bildlichkeit ist das
wichtigste Kennzeichen der Redensarten und der Sprichwörter. Ein Beispiel: Natürlich
könnte man sagen „Nicht alles, was von außen schön aussieht, ist auch innen drin was
wert.“ Aber wie viel prägnanter klingt dies:
Zitator 1:
Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Sprecherin:
Oder die Erfahrung, dass der Mensch sich nicht ändert. Niemand kann seiner angeborenen
Natur widerstehen. Stimmt zwar, ist aber etwas fade. Wie viel eindrücklicher dagegen das
Sprichwort:
Zitator 2:
Die Katze lässt das Mausen nicht.
Sprecherin:
Bildlich sind also beide, Redensart und Sprichwort. Was aber ist der Unterschied?5
Sprecher:
Das Sprichwort ist ein ganzer Satz in unabänderlicher Formulierung.
Zitator 1:
Hunger ist der beste Koch.
Sprecher:
Die Redensart ist ein verbaler Ausdruck, der erst noch vervollständigt werden muss.
Zitator 2:
Jemandem geht ein Licht auf. Aber wem? – Ich hole die Kastanien aus dem Feuer. Aber für
wen?
Sprecher:
Der zweite Unterschied besteht darin, dass das Sprichwort eine Lebensregel ausdrückt.
Zitator 1:
Hochmut kommt vor dem Fall.
Sprecherin:
Eine alte Lebensweisheit. Man könnte denken, sie stammt aus dem Volksmund. Stimmt aber
nicht.
Zitator 2:
Besser niedrig sein mit den Demütigen, als Beute austeilen mit den Hoffärtigen. Wer zu
Grunde gehen will, der wird zuvor stolz, und Hochmut kommt vor dem Fall.
Sprecher:
So spricht König Salomo im Alten Testament, und wer seine „Mahnungen der Weisheit“
durchliest, wird auf eine ganze Reihe von Sprichwörtern stoßen, übrigens auch auf viele
Redensarten.
Sprecherin:
Dass wir sie heute noch benützen, spricht dafür, dass der weise König Salomo seinen
Beinamen offensichtlich zu Recht bekam. Aber auch sonst ist die Bibel Quelle vieler
Sprichwörter. Oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst.
Zitator 1:
Entrüste Dich nicht über die Bösen,
sei nicht neidisch auf die Übeltäter.
Denn wie das Gras werden sie bald verdorren,
Und wie das grüne Kraut werden sie verwelken.
Hoffe auf den Herrn und tu Gutes,
bleibe im Lande und nähre dich redlich.
Sprecherin:
Im Zusammenhang ergeben sich oft ganz überraschende Aspekte:
Zitator 2:
Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr doch böse seid? Wovon das Herz voll
ist, davon fließt der Mund über.
Sprecherin:
Die Sprichwörter sind oft die Quintessenz eines Bibeltextes. Der Volksmund hat mit
instinktiver Sicherheit den Kern der Aussage herausgepickt und zum Sprichwort gemacht.
Das poetische Drumherum wird weggelassen.
Zitator 1:
Die Worte des Verleumders sind wie Leckerbissen und gehen einem glatt ein. Glatte Lippen
und ein böses Herz – das ist wie Tongeschirr, mit Silber überzogen. Wer seinen Hass
trügerisch verbirgt, dessen Bosheit wird doch vor der Gemeinde offenbar werden. Wer
andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Sprecherin:
Es kann gar nicht ausbleiben, dass diese Sprichwörter, die so alt und ehrwürdig sind, die
man bis zum Überdruss gehört hat, zur Parodie reizen.
Sprecher:
Ein Meister dieser Kunst war der Österreicher Karl Kraus.
Zitator 2:
Wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Sprecher:
Über seine Journalistenkollegen:
Zitator 2:
Wovon das Herz leer ist, davon fließt der Mund über.
Sprecher:
Aber auch die nichtbiblischen Sprichwörter und Redensarten hat er spielerisch verfremdet.
Zitator 2:
Den Leuten ein X für ein U vormachen – wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugibt?
Sprecher:
Es ging ihm um den gedankenlosen Umgang, den die Menschen mit der Sprache pflegen.
Zitator 2:
Einer sprach, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Er nahm sich kein Blatt vor meinen Mund
und redete über die heikelsten Dinge frisch von meiner Leber weg.
Sprecher:
Als er wegen dieser parodistischen Technik angegriffen wurde, erklärte er sein Motiv.
Zitator 2:
Ein Literaturprofessor meinte, dass meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von
Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Nur hat er den Gedanken nicht erfasst, der die
Mechanik treibt: dass bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr
herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung!
Sprecherin:
Das haben ihm inzwischen die Journalistenkollegen nachgemacht. Wir brauchen nur in der
Wochenzeitschrift „Die Zeit“ zu blättern und entdecken eine Fülle von verfremdeten
Sprichwörtern.
Sprecher:
Über einen jungen Theaterregisseur:
Zitator 1:
Erst denken, dann bellen.
Sprecher:
Über die vielen Literaturpreise im Lande:
Zitator 1:
Ohne Preis kein Fleiß.
Sprecher:
Über die Geldpolitik der Bundesbank:
Zitator 1:
Floating schützt vor Sorgen nicht.
Sprecher:
Über die EU und die Fischfangquote:
Zitator 1:
Der Geist ist willig, doch der Fisch ist schwach.
Sprecher:
Zur Bundesliga:
Zitator 1:
Im Fußball ist kein Ding unmöglich.
Sprecherin:
Eigentlich heißt es: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Schon wieder die Bibel! Gibt es denn
keine Redensarten, die der Volksmund geschaffen hat?
Sprecher:
Es gibt sie. Zum Beispiel solche, die auf alte germanische Rechtsbräuche zurückgehen.
Zitator 2:
Jemandem etwas stecken.
Sprecher:
Das heißt, jemandem etwas erzählen, ihn vor etwas warnen. Die Redensart stammt aus der
Zeit, in der man einen Angeklagten zum Femegericht lud, indem man ihm heimlich die
Vorladung an die Tür steckte. Aus derselben Zeit stammt auch:
Zitator 1:
Stein und Bein schwören.
Sprecher:
In heidnischer Zeit schwor man, indem man einen heiligen Stein berührte. In früher
christlicher Zeit war es eine Altarplatte oder der Reliquienschrein eines Heiligen, in dem
seine Gebeine ruhten. Weniger harmlos als der Eid war die so genannte Gottesprobe.
Zitator 2:
Darauf kannst du Gift nehmen! Dafür leg ich meine Hand ins Feuer!
Sprecher:
Belege aus dem Althochdeutschen zeigen, dass diese Redensarten schon vor mehr als
1.000 Jahren benützt wurden. Das gilt auch für bildliche Wendungen der Jagd und des
Vogelfangs:
Zitator 1:
Der Jäger muss alle Schliche des Wildes kennen, er muss wissen, wie der Hase läuft, und
wenn er dem Wild nachstellt, darf es keinen Wind davon bekommen. Bei der Treibjagd wird
die Jagdzone eingelappt, aber manches Tier geht trotzdem durch die Lappen, so wie auch
nicht jeder Vogel auf den Leim kriecht.
Sprecher:
Jünger, nämlich aus dem 13. und 14. Jahrhundert, sind die Redensarten aus der Welt des
Karten- und Würfelspiels:
Zitator 2:
Der Spieler lässt sich nicht in die Karten schauen, manchmal setzt er alles auf eine Karte,
irgendwie hat er immer die Hand im Spiel, klein beigeben gilt nicht, am besten mit
verdeckten Karten spielen, am Schluss musst du Farbe bekennen.
Sprecher:
Viel älter, aus dem 9. und 10. Jahrhundert, sind jene Wendungen, die mit Kampf und Waffen
zu tun haben.
Zitator 1:
Jemanden in Harnisch bringen …
Sprecher:
… heißt nichts anderes, als ihn so zu erzürnen, dass er seine Kampfrüstung anzieht.
Zitator 2:
Die Scharte wieder auswetzen …
Sprecher:
… muss derjenige, dessen Schwert im Kampf Scharten erhalten hat. Der empfangene
Schaden muss wieder gutgemacht werden. Aus der Neuzeit, wo man nicht mehr mit Schwert
und Harnisch kämpfte, sondern mit der Schusswaffe, stammt die Redensart:
Zitator 1:
Ui, der hat Lunte gerochen.
Sprecher:
Die Feuerwaffen des 16. Jahrhunderts wurden nämlich mit einem glimmenden Docht
entzündet, der an einem Stab befestigt war, der Lunte. Diese konnte man riechen, auch
wenn man den Schützen nicht sah.
Sprecherin:
„Lunte riechen“ bedeutet: eine Gefahr wittern, bevor sie sichtbar wird.
Sprecher:
Im 18. Jahrhundert gab es dann die Steinschlossgewehre, die eine Pfanne für das
Zündpulver hatten.
Zitator 2:
Man sollte immer noch etwas auf der Pfanne haben. Übel dran ist der, der sein Pulver
verschossen hat und dann zwischen zwei Feuer gerät.
Sprecher:
Alles Ausdrücke aus dem Soldatenleben, die nicht mehr erklärt werden müssen, weil wir sie
unmittelbar verstehen. Dazu gehört auch „grobes Geschütz auffahren“ oder „das schlug ein
wie eine Bombe“.9
Zitator 1:
Das ist unter aller Kanone.
Sprecherin:
Reingefallen! „Unter aller Kanone“ hat nichts mit dem Krieg zu tun.
Sprecher:
Es ist ein theologischer Begriff und heißt „sub omni canone“, unter jeder Kritik. Der
Volksmund hat dann „unter aller Kanone“ draus gemacht.
Sprecherin:
Wer hingegen die Flinte ins Korn warf, war kein Soldat, sondern ein Jäger. Ein verzagter
Jäger, der glaubte, er würde nichts mehr treffen. Christian Morgenstern hat darüber ein
Gedicht geschrieben:
Zitator 1:
Palmström findet eines Abends
als er zwischen hohem Korn
singend schweift
eine Flinte.
Trauernd bricht er seinen Hymnus
ab und setzt sich in den Mohn,
seinen Fund zu betrachten.
Innig stellt er den Verzagten,
der ins Korn sie warf, sich vor
und beklagt ihn von Herzen.
Sprecherin:
Morgenstern hatte, wie viele Dichter, ein spielerisches Verhältnis zu den Redensarten. Zum
Beispiel die von den böhmischen Dörfern …
Zitator 1:
Palmström reist mit einem Herrn von Korf
in ein so genanntes Dorf.
Unverständlich bleibt ihm alles dort,
von dem ersten bis zum letzten Wort.
Auch von Korf, der nur des Reimes wegen
ihn begleitet, ist verlegen.
Doch just dieses macht ihn blass vor Glück.
Tief entzückt kehrt unser Freund zurück.
Und er schreibt in seine Wochenchronik:
Wieder ein Erlebnis voll von Honig!
Sprecherin:
Der letzte Vers könnte sehr gut selbst eine Redensart werden. Überhaupt – die Dichterzitate!
Das ist – neben dem Sprichwort und der Redensart – die dritte volkstümliche Wendung, die
als feste Formel im Sprachgebrauch weiterlebt. Die so genannten „geflügelten Worte“. Und
genauso wie die Bibelsprichwörter reizen auch sie, die altehrwürdigen Zitate, zur Parodie
und Spielerei. Naturgemäß erwischt es den alten Goethe am häufigsten.
Zitator 2:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Zitator 1:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
weiß nicht, wie Krümel pieken.
Zitator 2:
Nur wer die Sehnsucht kennt,
weiß, was ich leide!
Zitator 1:
Mein Bett allein weiß, was ich leide.
Und leider leid ich auch an meinem Bett.
Es macht mich renitent und fett,
ich seufze, wenn ich mich entkleide.
Und doch: in kurzen Intervallen
zieht es mich halb, halb sink ich hin.
Und das ist wohl der tiefre Sinne:
Ein Mensch, der liegt, kann nicht mehr fallen.
Geräusch einblenden: Fußballstadion / Spiel in vollem Gange / Zitator 2 als
Reporter:
Und da sehen wir den Schiedsrichter aus der Türkei, bewundert viel und viel gescholten, er
lässt das Tor gelten, jawoll, und Basler jubelt, warum auch nicht, nur die Lumpen sind
bescheiden, Brave freuen sich der Tat! Noch leckt sich Herta die Pokalwunden, aber da
kommt es schon zum Elfmeter, und hoi! Oliver Kahn hält tatsächlich den Ball, ja, es ist eine
der größten Himmelsgaben, so ein lieb Ding im Arm zu haben. Und was sagt uns die Miene
des Schützen? Ach, ich bin des Treibens müde! Der Trainer brüllt, der Trainer schreit, die
Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt die Puste …
Sprecherin:
Ein Potpourri aus Sportreporterlyrik. Was dem Journalisten recht ist, ist der Werbung billig.
Wozu steckt denn der alte Goethe voller Zitate?
Zitator 1:
Edel ist die
Gillette.
Hilfreich und
sanft.
Gillette-sanft.
Zitator 2:
Warum in die Ferne schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Urlaub im Land der Fränkischen Seen!
Zitator 1:
Am Kabel hängt, zum Kabel drängt
doch alles. Die Telekom!
Sprecherin:
Für das Dichterzitat gilt dieselbe Regel wie für das Sprichwort und die Redensart: Beide
leben im heutigen Sprachgebrauch von der Variation, von der Verfremdung, vom Spaß am
Ulk.
Zitator 2:
Das geht mir durch Mark und Pfennig!
Zitator 1:
Wie das Hornberger Schießen im Sande verlaufen!
Zitator 2:
Das schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht!
Zitator 1:
Wie man sich bettet, so schallt es heraus!
Sprecherin:
Herr Professor, was sagen Sie dazu?
Professor:
Gerade diese Variationen beweisen ja doch, dass das ursprüngliche Sprichwort weiter im
Umlauf ist, denn jeder Variation muss ein Original zu Grunde liegen. Wir brauchen deshalb
den Verfall der Sprichwörter und Redensarten nicht zu beklagen, denn diese Variationen
beweisen eigentlich nur eins: ihre ungebrochene Vitalität.